Die neue Normalität

In seinem Buch „Die richtige Flughöhe finden“ schreibt Bertrand Piccard, dass der Mensch in Krisensituationen viel zu viel Energie dafür verwendet, den alten Zustand wieder herzustellen.

Wir wünschen uns alle die Normalität zurück. Doch wird es je wieder so sein wie vor der Pandemie? Ich glaube kaum! Ist das schlimm oder haben wir jetzt die Chance auf nachhaltige Veränderungen? Viele Existenzen sind bedroht, Ängste und Verunsicherungen schleichen sich in zahlreiche Leben – das ist mehr als verständlich! Veränderungen verunsichern und sind oft nicht umsetzbar, weil Erfahrungen aus der Vergangenheit hemmend wirken. Oft ohne, dass uns dies bewusst wäre.

Es besteht die Möglichkeit, eine neue, lebenswerte „Normalität“ zu schaffen. Das Leben war noch nie sicher – nur weil wir in den letzten Jahrzehnten in unseren Breitengraden sogenannt „sicher“ gelebt haben, heisst das nicht, dass unser Leben vor der Pandemie „sicher“ war. Es war uns einfach nicht bewusst, wie fragil das Leben ist.

Wir werden mit dem Virus leben lernen (müssen) und ich bin ganz fest davon überzeugt, dass uns dies gelingen wird. Nicht von heute auf morgen und nicht ohne Schmerz.

Normalität

Nun ist es soweit – nach Wochen des Lockdowns stehen Lockerungen bevor, wir befinden uns auf dem Weg zurück in die „Normalität“. Doch was heisst das – Normalität? War denn die Zeit vor Ausbruch der Pandemie „normal“? Wollen wir sie wirklich zurück diese Zeit der Hektik, der inneren Unruhe, der Rastlosigkeit?

Die Stille der letzten Wochen hatte neben den grossen Einschränkungen durchaus auch sein Gutes. So konnte man beispielsweise lesen, dass die Mütter sich nach der Geburt schneller erholten und weniger Probleme mit dem Stillen hätten. Oder der Gesang der Wale sei stärker geworden, Delfine seien in Italien gesichtet worden… Familien haben begonnen, gemeinsam zu kochen, gemeinsam die Freizeit zu gestalten – fern aller Ablenkungen. Der Himmel war frei von Flugzeugen, die Vögel – so schien es einem – sangen noch nie so schön wie dieses Frühjahr.

In welche „Normalität“ also wollen wir zurück? Es wäre sehr zu wünschen, dass Vieles, das wir in den letzten Wochen als „Gewinn an Lebensqualität“ wahrgenommen haben, erhalten bleibt.

Spiegel

Wir kennen ihn alle – den Präsidenten mit der tollen Frisur und wundern uns zuweilen über seine Reden und sein Verhalten. Er kann problemlos heute etwas behaupten und zwei Wochen später genau das Gegenteil verkünden. Erinnert er sich nicht an seine eigenen Worte?

Nun frage ich mich in diesen Zeiten, ob es nicht ganz Vielen unter uns auch so ergeht? Dass wir uns nicht mehr erinnern – an unsere Worte, an unsere Werte? Beispielsweise das Händeschütteln. Als ein muslimischer Schüler vor ein paar Jahren seiner Lehrerin den Händedruck verweigerte, ging eine grosse Empörung durchs Land. Wir sahen unsere Demokratie und unsere Kultur in unmittelbarer Gefahr. Jetzt ist Händeschütteln tunlichst zu unterlassen! Von höchster Stelle verordnet! Wir erdulden’s klaglos und wenn der Zustand noch lange andauert, werden wir uns vielleicht daran gewöhnt haben. Oder die Masken – vor noch nicht allzu langer Zeit wirkte eine Frau mit Kopftuch oder mit Burka sowieso, wie eine Bedrohung auf uns. Und jetzt – sind es vielleicht gerade diejenigen Kreise, die sich eine obligatorische Maskenpflicht wünschen, die sich damals vehement für ein Verhüllungsverbot einsetzten? Ich weiss es nicht!

Als die Grossverteiler dazu übergingen, ihre Kunden Punkte sammeln zu lassen, werteten viele Personen dies als Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Es geht doch nicht, dass Daten über unser Einkaufsverhalten gesammelt werden! Glaubt man den heutigen Umfragen, ist ein Grossteil der Bevölkerung damit einverstanden, Handydaten, die Rückschlüsse auf den Bewegungsradius und die Kontakte zulassen, zur Verfügung zu stellen. Ohne genau zu hinterfragen, was mit diesen Daten passiert.

Es stimmt mich nachdenklich, dass wir als demokratische Gesellschaft im „Corona-Modus“ dazu übergegangen sind, alles hinzunehmen, ohne Fragen zu stellen, ohne sich auf die Werte zu besinnen, die uns noch vor ein paar wenigen Wochen hoch und heilig waren.

Ist vielleicht der „Blondschopf“ auf der anderen Seite des Atlantiks nur ein Spiegel für uns? Zeigt er uns auf, wie vergesslich wir alle geworden sind?

Natur

Haben Sie auch das Gefühl, dass die Natur sich in diesem Frühjahr ganz besonders üppig zeigt? So, als wollte sie uns trösten … oder Danke sagen, dass wir für einen Moment inne halten, die Flugreisen aussetzen, die Autos in der Garage lassen und ihr somit eine Verschnaufpause gönnen? Die Rapsfelder leuchten in einem satten gelb, die verschiedenen Grüntöne der Bäume erscheinen besonders kräftig, die bunten Blumen in den Gärten und Wiesen sind irgendwie farbenfroher als sonst. Sogar der Ahorn auf unserer Terrasse zeigt dieses Jahr sein intensivstes Rot. Oder erscheint es uns vielleicht so, weil wir gerade lernen, die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche zu lenken?

Nächste Woche öffnen die Blumenläden und Gärtnereien. Wie ein kleines Kind auf Weihnachten, freue ich mich darauf, Blumen und Pflanzen für unsere Terrasse auszusuchen und die paar Blumenkistchen neu zu bepflanzen. Also doch – den Blick für’s Wesentliche geschärft…?

Wie weiter?

Die sonnigen Osterfeiertage sind Geschichte. Nach der sehr speziellen Zeit ohne Familientreffen, ohne Wanderungen mit Freunden, stellt sich so langsam aber sicher der Wunsch nach der lieben alten „Normalität“ ein. Doch was ist schon „normal“? Das Leben vor Corona? Hat uns jemand versprochen, dass wir dieses je zurück erhalten werden? Ich kann mich nicht erinnern!

Das Corona-Virus wird bleiben, egal wie’s in den nächsten Wochen weitergeht. Viren bevölkern die Erde schon sehr viel längerer Zeit als wir Menschen. Was wäre also angesagt? Sollten wir uns bemühen, die gegebenen Umstände einfach zu akzeptieren, anzunehmen? Das hätte nichts mit Resignation zu tun – im Gegenteil. Wie wäre es, wenn wir ein Leben in Harmonie mit allem was ist anstreben würden? Respektvoll mit den Ressourcen umgingen? Unsere Konsumhaltung überdenken und unsere Gewohnheiten den veränderten Umständen anpassen würden? Läge darin nicht eine grosse Chance auf ein zufriedeneres Leben?

„Kampf gegen“… kostet stets sehr viel Energie und am Schluss steht ein Verlierer, meist wir selber. Annehmen und versuchen das Beste aus was auch immer zu machen, ist eine Herausforderung. In meinem Empfinden jedoch der entspanntere Weg.